Morgennetze
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O sieh das Spinnenweb im Morgensonnenschein,
wie es vom Thau noch voll kristallner Tropfen hängt!
Im leichten Winde wiegt es seiner Perlen Pracht,
die in den silbergrauen Maschen hier und dort
so flüchtig sich wie sanft und zierlich eingeschmiegt.
Sieh, so ist alles Glück. So hängt es flüchtig sich
in unsrer Tage schwankendes Gespinst,
und es erschauert unter seiner köstlichen Last
des Majaschleiers weltdurchwallendes Geweb.

 

Christian Morgenstern - Das Spinnennetz

 

 

 

Spinnennetze sind kleine technische Wunderwerke.

 

Eine Spinne braucht oft nur wenige Stunden für ein neues Netz. Dabei arbeitet sie mit unterschiedlichen Fäden: Die tragenden Linien sind trocken und nicht klebrig, die Fangspirale trägt feine Klebetropfen. So kann die Spinne selbst sicher darüber laufen, während Insekten hängen bleiben.

Wird das Netz beschädigt oder hat es seinen Dienst getan, frisst sie die Fäden sogar wieder auf und nutzt das Eiweiß für frische Seide.

Aus alt wird neu – Nacht für Nacht.

 

Am meisten liebe ich diese Netze an stillen, feuchten Morgen.
Der Tau macht sichtbar, was sonst fast unsichtbar bleibt: feinste Konstruktionen, gespannt zwischen Baumstämmen, über Wege und durch Hecken. Die Tropfen zeichnen jede Linie nach und verwandeln das Netz in eine Kette aus Perlen. Manchmal bilden sich an einzelnen Stellen schwere Tropfen, in denen sich die Umgebung spiegelt – ein ganzer Baum in einem einzigen Tropfen.

 

Die Bilder in diesem Beitrag sind an einem solchen Tag entstanden: im Wald, am Wegrand und an Feldrainen hier in der Nähe.
Ein großes Radnetz am Baum, das ein wenig an ein Collier erinnert.
Ein Netz, das schräg über den Weg gespannt ist und den Nebel im Hintergrund sammelt.
Ganz nah herangeholt: nur noch Linien und Tropfen, ein Geflecht aus Punkten, das fast abstrakt wirkt.
Eine einzelne Fadenlinie voller Perlen, kaum mehr als ein Strich. Dieses Bild mag ich besonders. Denn da hängt er, fast befreit, beinahe frei – ein zarter Faden, der sich im Wind bewegt. Für mich ist das ein leiser Moment von ‚loslassen, aber noch gehalten sein‘. 
Und am Ende die Blüte, die aufrecht vor einem Netz steht - Farbe und Struktur vor einem Gewebe aus Licht.

 

Diese Netze haben etwas Beruhigendes und sie faszinieren mich.
Gleichzeitig robust und zerbrechlich halten sie Wind und Wetter aus und lösen sich doch mit einer einzigen Berührung auf. Und es entstehen immer wieder neue, ohne Drama, ohne große Geste, einfach als Teil des Morgens.

 

Vielleicht wirken die Fotos auf den ersten Blick wie kleine Stillleben.
Für mich sind sie auch eine Erinnerung daran, wie viel im Verborgenen entsteht – und wie wenig es manchmal braucht, damit es sichtbar wird: ein bisschen Feuchtigkeit, ein bestimmter Blickwinkel und ein Moment des Stehenbleibens.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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